Umstrittene, abgelehnte und apokryphe Bücher

Willem Johannes Ouweneel

© CLV, online seit: 18.03.2006, aktualisiert: 23.11.2021

Umstrittene Bücher

Wir haben jetzt gesehen, dass hinsichtlich des Alten wie auch des Neuen Testaments die meisten Bücher sofort, andere aber mit einigem Zögern als kanonisch angesehen wurden (siehe „Entstehung des biblischen Kanons“). Die Bücher, die von allen sofort anerkannt wurden, nennt man Homologoumena („einstimmig anerkannt“); die Bücher, die sofort von allen verworfen wurden, nennt man Pseudepigraphen („mit falscher Angabe, unecht“). Die umstrittenen Bücher nennt man Antilegomena („widersprochen, umstritten“), und die Bücher, die nur von Einzelnen anerkannt wurden, nennt man Apokryphen (buchst. „verborgen, geheimnisvoll“, später: „nicht-kanonisch, apokryph“).

Wir wollen uns nun kurz mit den letzten drei Gruppen befassen und beginnen mit den Antilegomena, also den biblischen Büchern, die kurze Zeit von einigen angefochten wurden. Das will aber nicht heißen, dass ihr Platz im Kanon weniger sicher ist als der der anderen Bücher; im Gegenteil, wir haben versucht zu zeigen, dass alle Bücher der Bibel ursprünglich sofort als kanonisch anerkannt wurden, auf jeden Fall aber von denen, an die sie zunächst gerichtet waren. In allen Fällen entstanden erst viel später Zweifel am kanonischen Charakter mancher Bücher. Im Judentum geschah dies durch das Aufkommen bestimmter rabbinischer Schulen; im Christentum entstanden Zweifel, wenn Bücher, die in anderen Teilen der Welt verfasst und in Umlauf gebracht waren, anderswo nicht sofort als authentisch erkannt worden waren. Es dreht sich im ganzen um fünf alt- und sieben neutestamentliche Bücher:

  1. Esther wurde als ein weltliches Buch angesehen, vor allem weil darin der Name Gottes nicht vorkommt. Ein möglicher Grund dafür ist, dass für die persischen Juden (die sich geweigert hatten, nach Palästina zurückzukehren) Gottes Bundesverheißung nicht galt. Andererseits wird in Esther 4,14 „Denn wenn du in dieser Zeit schweigst, so wird Befreiung und Errettung für die Juden von einem anderen Ort her erstehen; du aber und deines Vaters Haus, ihr werdet umkommen. Und wer weiß, ob du nicht für eine Zeit wie diese zum Königtum gelangt bist?“ aber geradewegs auf Gottes Vorsehung und Hilfe hingedeutet; auch wird ein religiöses Fasten abgehalten und Esther zeigt, dass sie einen festen Glauben hat (Esther 4,16 „Geh hin, versammle alle Juden, die sich in Susan befinden; und fastet um meinetwillen, und esst nicht und trinkt nicht drei Tage lang, Nacht und Tag; auch ich werde mit meinen Mägden ebenso fasten. Und dann will ich zum König hineingehen, was nicht nach der Anordnung ist; und wenn ich umkomme, so komme ich um!“). Tatsächlich ist gerade dieses Buch ein mächtiges Zeugnis von Gottes Erlösungsplan mit seinem Volk – eine Erlösung, die noch immer den Grund für das jüdische Purimfest legt (Esther 9,26-28 (26) Darum nannte man diese Tage Purim, nach dem Namen des Pur. Deshalb, wegen aller Worte dieses Briefes, sowohl dessen, was sie selbst davon gesehen hatten, als auch, was zu ihnen gelangt war, (27) setzten die Juden fest und nahmen auf sich und auf ihre Nachkommen und auf alle, die sich ihnen anschlossen, als eine ewige Satzung, diese beiden Tage zu feiern, nach dem was darüber geschrieben worden war, und nach ihrer bestimmten Zeit, Jahr für Jahr; (28) und dass diese Tage im Andenken bleiben und gefeiert werden sollten in jedem einzelnen Geschlecht, in jeder einzelnen Familie, in jeder einzelnen Landschaft und in jeder einzelnen Stadt; und dass diese Purim-Tage unter den Juden nicht untergehen und ihr Andenken nicht aufhören sollte bei ihren Nachkommen.“).

  2. Die Sprüche Salomos wurden von einigen angefochten, weil darin widersprüchliche Aussagen vorkämen (siehe Sprüche 26,4.5 (4) Antworte dem Toren nicht nach seiner Narrheit, damit nicht auch du ihm gleich werdest. (5) Antworte dem Toren nach seiner Narrheit, damit er nicht weise sei in seinen Augen.“); eine Behauptung, die sehr einfach zu widerlegen ist.

  3. Das Buch Prediger wurde als zu pessimistisch angesehen (siehe z.B. Prediger 1,1.9.18 „Worte des Predigers, des Sohnes Davids, des Königs in Jerusalem.“ „Das, was gewesen ist, ist das, was sein wird; und das, was geschehen ist, ist das, was geschehen wird. Und es gibt gar nichts Neues unter der Sonne.“ „Denn wo viel Weisheit ist, ist viel Verdruss; und wer Erkenntnis mehrt, mehrt Kummer.“), weil man den Standpunkt des Verfassers nicht richtig verstand. Dieser trachtete danach, Erfüllung des Lebens in den Dingen „unter der Sonne“ zu finden, was ihm natürlich nicht gelang (siehe Prediger 7,23-29), bis er schließlich lernte, die Dinge von Gottes Warte aus zu sehen (Prediger 11,9; 12,1 (11:9) Freue dich, Jüngling, in deiner Jugend, und dein Herz mache dich fröhlich in den Tagen deiner Jugendzeit, und wandle auf den Wegen deines Herzens und im Anschauen deiner Augen; doch wisse, dass für dies alles Gott dich ins Gericht bringen wird.“ „(12:1) Und gedenke deines Schöpfers in den Tagen deiner Jugendzeit, ehe die Tage des Übels kommen und die Jahre herannahen, von denen du sagen wirst: Ich habe kein Gefallen an ihnen; –“), und somit zu dem „Schlusswort“ kam: „Fürchte Gott und halte seine Gebote“ (Prediger 12,13).

  4. Das Hohelied betrachteten manche als zu sinnlich. Dabei musste man wohl die Augen verschlossen haben für die Reinheit des Buches, die Vortrefflichkeit der ehelichen Liebe, die darin gepriesen wird, und die geistliche Anwendung des Buches, die schon von Anfang an darin erkannt wurde.

  5. Hesekiel fanden manche im Widerspruch mit den mosaischen Gesetzen, aber auch das stellte sich als Interpretationssache heraus und konnte schließlich richtiggestellt werden.

  6. Der Hebräerbrief wurde eine Zeitlang wegen der Anonymität des Verfassers angefochten und weil manche Ketzer diesem Brief anscheinend Irrlehren entnahmen. Schließlich sah man ein, wie falsch das war, und wurde davon überzeugt, dass Paulus wahrscheinlich der Verfasser ist.

  7. Der Jakobusbrief wurde im Westen so lange nur zögernd aufgenommen, bis deutlich wurde, dass der Verfasser in der Tat der bekannte apostolische Gemeindevorsteher aus Jerusalem war und der Inhalt seines Briefes („Rechtfertigung durch Werke?“) nicht im Widerspruch mit der Lehre des Paulus stand – was auch von späteren Kirchenvätern betont wurde, obwohl sogar Luther noch Mühe mit diesem Buch hatte.

  8. Der zweite Petrusbrief war das am meisten angefochtene Buch, hauptsächlich wegen des stilistischen Unterschieds zum ersten Petrusbrief. Daher entstanden Zweifel an der Verfasserschaft. Man meinte sogar eine Zeitlang, dass das Buch eine Fälschung aus dem zweiten Jahrhundert sei, was aber dadurch widerlegt wurde, dass Klemens von Rom (1. Jhdt.) aus diesem Buch zitierte, dass literarische Übereinstimmungen mit den Qumranschriften bestehen (siehe Kapitel 3) und dass der zweite Petrusbrief schon von den koptischen Christen des dritten Jahrhunderts hochgeschätzt wurde, wie es die Bodmer-Handschrift P72 (siehe Kapitel 4) zeigt. Wir können hier nicht ausführlich auf die Verfasserschaft eingehen, aber wir glauben in Übereinstimmung mit einer Autoritätsperson wie Donald Guthrie (Professor am London Bible College) daran, dass es nur ungenügende Gründe dafür gibt, die Verfasserschaft des Petrus anzuzweifeln. Der stilistische Unterschied zu einem literarischen Meisterwerk, wie es der erste Petrusbrief ist, liegt vielleicht in der Tatsache begründet, dass Petrus bei dem zweiten Brief mit Silvanus zusammengearbeitet hat (siehe 2. Petrus 5,12 „Und überdies, mein Sohn, lass dich warnen: Das viele Büchermachen hat kein Ende, und viel Studieren ist Ermüdung des Leibes.“).

  9. Die Briefe 2. und 3. Johannes wurden nicht überall sofort anerkannt, weil sie etwas anonym schienen und anfänglich nur begrenzt im Umlauf waren. Der Stil und die Botschaft dieser beiden Briefe stimmen aber deutlich mit 1. Johannes überein, und niemand, außer dem großen Apostel Johannes, würde es im ersten Jahrhundert gewagt haben, sich den Gläubigen in Kleinasien mit dem „anmaßenden“ Namen „der Älteste“ vorzustellen.

  10. Der Judasbrief war wegen seiner Hinweise auf apokryphe oder pseudepigraphe Werke umstritten; aber die meisten frühen Kirchenväter verstanden offensichtlich, dass wohl die zitierte Information, nicht aber die Werke selber, denen diese Information entnommen war, als autoritativ präsentiert wurde und dass die Hinweise sich nicht wesentlich von Paulus′ außerkanonischen Informationen unterschieden (z.B. 2. Timotheus 3,8 „In der Weise aber, wie Jannes und Jambres Mose widerstanden, so widerstehen auch diese der Wahrheit, Menschen, verdorben in der Gesinnung, unbewährt hinsichtlich des Glaubens.“).

  11. Das Buch der Offenbarung war eines der ersten Bücher, die als von Gott inspiriert anerkannt wurden (Hermas, Papias, Irenäus; 2. Jhdt.), andererseits war es aber auch das Buch, über das am längsten (bis weit ins 4. Jhdt.) diskutiert wurde, vor allem wegen allerlei Irrlehren, die bestimmte Sekten mit diesem Buch verbanden. Nachdem diese aber widerlegt werden konnten, war der Platz im Kanon gesichert.

Die von allen abgelehnten Bücher

Nun kommen wir zu den Pseudepigraphen, einer Sammlung oft unechter, absurder religiöser Schriften, die unter den Juden bzw. den Christen eine bestimmte Verbreitung fanden. Die alttestamentlichen Pseudepigraphen entstanden zwischen ca. 200 v.Chr. und 200 n.Chr. und die des Neuen Testaments im 2. und 3. Jhdt. n.Chr. Manche sind dogmatisch ungefährlich (wie Psalm 151), andere Pseudepigraphen jedoch enthalten religiöse Phantasien oder Überlieferungen (möglicherweise auf einem historischen Kern beruhend), dazu oft fragwürdige Imitationen der prophetischen Bücher und unnütze Spekulationen über unbekannte Themen (wie z.B. die Kindheit Jesu Christi); vor allem aber allerlei Irrlehren, die nach Aussagen der kanonischen Bücher als verwerflich und gefährlich angesehen werden müssen. Kein einziger geistlicher Führer hat jemals auch nur eines dieser Bücher als kanonisch angesehen. Zweifellos kamen in solchen Büchern auch wahre Dinge vor, daher kommt es auch, dass die Bibelautoren manchmal indirekt darauf hingewiesen haben. So scheint es (nach Origenes), dass Judas in seinem Brief auf das Buch „Die Himmelfahrt Moses“ (Judas 9) und das Buch 1. Henoch (Judas 14.15 (14) Es hat aber auch Henoch, der Siebte von Adam, von diesen geweissagt und gesagt: „Siehe, der Herr ist gekommen inmitten seiner heiligen Tausende, (15) um Gericht auszuführen gegen alle und zu überführen alle Gottlosen von allen ihren Werken der Gottlosigkeit, die sie gottlos verübt haben, und von all den harten Worten, die gottlose Sünder gegen ihn geredet haben.““) hinweist und Paulus in 2. Timotheus 3,8 „In der Weise aber, wie Jannes und Jambres Mose widerstanden, so widerstehen auch diese der Wahrheit, Menschen, verdorben in der Gesinnung, unbewährt hinsichtlich des Glaubens.“ auf das eine oder andere Buch von Jannes und Jambres (oder Mambres).

Die Standardliste der alttestamentlichen Pseudepigraphen umfasst siebzehn Bücher: vier legendäre (u.a. das Buch von Adam und Eva), sieben apokalyptische (Apokalypse = Offenbarung, u.a. die von Judas zitierten Bücher), vier unterweisende Bücher, ein historisches und ein poetisches Buch: die Psalmen Salomos, denen wir auch noch Psalm 151 (der in der Septuaginta vorkommt) zufügen können. Diese Liste ist aber noch lange nicht vollständig: Die Qumranrollen haben noch verschiedene neue Pseudepigraphen ans Licht gebracht. Die Menge der neutestamentlichen Pseudepigraphen ist noch viel größer: Photius nannte im 9. Jahrhundert bereits 280, und seitdem sind noch andere bekannt geworden. Die Sammlung enthält Dutzende „Evangelien“ (einige bekannte sind die sogenannten des Thomas, des Petrus, der Ägypter, des Nikodemus, Josephs des Zimmermanns, der Geburt der Maria und der Kindheit Jesu), dazu eine Reihe Bücher, „Apostelgeschichten“ genannt (von allerlei einzelnen Aposteln), eine Menge Briefe (unter denen sogar, wie man behauptete, einer war, den Christus an den König von Mesopotamien geschrieben haben soll, und sechs Briefe, angeblich von Paulus an Seneca), eine Reihe Bücher, die „Offenbarung“ genannt wurden (u.a. die des Paulus, des Thomas, des Stephanus) und verschiedene andere.

Alttestamentliche Apokryphen

Wir kommen jetzt zu den „apokryphen“ Büchern, von denen manche Leute glaubten, dass sie kanonisch seien. Das ist ein wichtiges Thema, weil u.a. die römisch-katholische Kirche eine Reihe alttestamentlicher Apokryphen als kanonisch betrachtet, so dass man diese Bücher wohl in den römisch-katholischen, nicht aber in den meisten evangelischen Bibelausgaben findet. Die Septuaginta enthalt ebenfalls alle diese Apokryphen (außer 2. Esdras) und auch einige Pseudepigraphen. Die römisch-katholische Kirche erklärte während des Konzils von Trient (1546) die Apokryphen (bis auf 1. und 2. Esdras und das Gebet des Manasse) für kanonisch. Wir können die vollständige Liste der alttestamentlichen Apokryphen jetzt wie folgt einteilen:

1. Historisch

  • 1. Esdras (Vulgata: 3. Esdras = 3. Esra): hauptsächlich eine Bearbeitung von 2.Chronik 35 und 36, Esra, Nehemia 8 und Legenden.
  • 1. Makkabäer: die Geschichte des Judentums unter Antiochus Epiphanes und den Hasmonäern bis ca. 100 v.Chr. Ein wichtiges historisches Werk!
  • 2. Makkabäer: ein paralleler, mehr legendärer Bericht, nur über Judas, den Makkabäer.

2. Religiöse Fiktion („haggadah“)

  • Tobias: eine kurze, sehr pharisäische Novelle (ca. 200 v.Chr.), gesetzlich.
  • Judith: dasselbe (ca. 150 v.Chr.), heldisch, voller historischer Fehler.
  • Anhänge zu Esther: spätere, populäre Nachträge, die dazu dienen sollten, das Fehlen des Namens Gottes im Buch Esther wieder wettzumachen.
  • Anhänge zu Daniel: später aufgenommene Legenden: die Geschichte der Susanna, die Geschichte von Bel und dem Drachen und der Gesang der drei Männer im Feuerofen (siehe Daniel 3).

3. Lehrhaft(„Weisheit“-Literatur)

  • Die Weisheit von Salomo (zwischen 140 v. und 40 n.Chr.?): Attacke auf Skeptizismus, Materialismus und Götzendienst.
  • Jesus Sirach oder Ekklesiasticus (ca. 180 v.Chr.), ein moralisch hochstehendes Werk, ähnlich wie die Sprüche.
  • Baruch (zwischen 150 v. und 100 n.Chr.?): Dieses Buch behauptet von sich, das Werk von Jeremias Freund Baruch zu sein – es enthält ein nationales Sündenbekenntnis, „Weisheit“ und ein Erlösungsversprechen. Man fügte dem Buch Baruch oft den unabhängigen Brief des Jeremia bei.

4. Apokalyptisch (= prophetische Visionen)

2. Esdras (Vulgata: 4. Esdras): Prophetie, Visionen und Ermahnungen. (Man sagt, dass dieses Buch Luther so verwirrte, dass er es in die Elbe warf.) Im Lichte dessen, was wir oben geschrieben haben, wird es nicht schwer sein, einzusehen, weshalb die ost-orthodoxen, anglikanischen und protestantischen Kirchen diese Bücher niemals als völlig kanonisch angesehen haben. Wir wollen uns an die fünf genannten Kriterien erinnern und sehen, dass

  1. die Apokryphen nicht den Anspruch erheben, prophetisch zu sein,
  2. nicht mit der wirklichen Autorität Gottes reden,
  3. wenig originelles, aufbauendes Material, keine Zukunftsprophetie und keine neue Wahrheit über den Messias (Gottes gesalbten Erlöser) weitergeben,
  4. manchmal voller historischer Fehlangaben und dogmatischer Ketzereien sind, wie z.B. die Totenanbetung, und
  5. von Gottes Volk, an das sie zunächst gerichtet waren, abgewiesen wurden.

Die jüdische Gemeinde hat sie niemals als kanonisch angenommen. Auch Christus und die neutestamentlichen Verfasser taten das genausowenig; auch die christliche Kirche an sich hat sie zu keiner Zeit akzeptiert. Die meisten großen Kirchenväter der Frühkirche haben sie als nicht-kanonisch verworfen. Kein großes Kirchenkonzil hat diese apokryphen Bücher als kanonisch angesehen, bis die kleinen, örtlichen Konzilien von Hippo und Karthago (siehe oben) es dann, vor allem unter dem Einfluss von Augustinus und der Septuaginta, doch taten: Aber sogar Augustinus betrachtete sie nur als begrenzt kanonisch und wurde außerdem in diesem Punkt schwer von Hieronymus, dem größten hebräischen Gelehrten jener Zeit, angegriffen. Er weigerte sich sogar, die Apokryphen ins Lateinische zu übersetzen. Erst nach seinem Tod wurden sie der Vulgata hinzugefügt. Selbst noch in der Zeit der Reformation wurden diese Bücher von vielen römischen Gelehrten als nicht-kanonisch verworfen.

Wir haben schon gesehen, wie die Apokryphen in die Septuaginta hineingelangten. Die alexandrinischen Juden, die diese griechische Übersetzung machten, hatten keine einzige Richtlinie, um einen Kanon festzulegen. Ihre Übersetzung beruft sich darum auch keineswegs darauf, einen Kanon darzustellen (siehe oben Philo). Genauso wie bei den ersten christlichen Bibeln (Sinaiticus, Vaticanus, etc.), nahm man in alten Manuskripten oft die Apokryphen auf, um sie für das Studium und Verlesen zur Verfügung zu haben, ohne sie damit aber gleich als kanonisch anzuerkennen. Dies zeigt sich in den Schriften der antiken Verfasser und Kirchenväter. Als schließlich das Konzil von Trient im Jahre 1546 die Apokryphen für kanonisch erklärte, war das eine polemische und mit Vorurteilen belastete Maßnahme. In Diskussionen mit Luther beriefen sich die päpstlichen Katholiken auf Makkabäer, um die Totenanbetung zu verteidigen. Nachdem Luther dieses Buch als apokryph verwarf, antwortete Rom damit, dass man es in Trient einfach für kanonisch erklären ließ. Dass dies nicht nur eine polemische, sondern auch eine mit Vorurteilen belastete Maßnahme war, zeigt sich darin, dass nicht alle apokryphen Bücher für kanonisch erklärt wurden; so wurde u.a. 2. Esdras deshalb verworfen, weil es eine ausdrückliche Warnung gegen Totenanbetung enthält.

Neutestamentliche Apokryphen

Die Sache mit den apokryphen Büchern des Neuen Testaments ist deshalb einfacher, weil keines von ihnen auch nur von irgendeiner christlichen Gruppe als kanonisch angesehen wird, nicht einmal von Rom. Dadurch ist auch der Unterschied im Vergleich zu den Pseudepigraphen sehr vage; jede der Apokryphen-Schriften wurde von mindestens einem Kirchenvater als mehr oder weniger kanonisch betrachtet, was bei den Pseudepigraphen niemals der Fall war. Wenn wir die gerade genannte Definition der Apokryphen beibehalten, können wir sie wie folgt einteilen:

1. Werke der „apostolischen Väter“:

  • Die 7 Briefe von Ignatius (um 110 n.Chr.), insbesondere an die Epheser, Magnesier, die Trallier, die Römer, die Philadelphier, die Smyrnaer und an Polykarp.
  • Der Brief von Polykarp an die Philipper (um 115).
  • Der Brief von Klemens an die Korinther (um 96).
  • Der sogenannte zweite Brief von Klemens (aber nicht von ihm) (120–140?).
  • Die „Didache“ (= Lehre) der zwölf Apostel (aber nicht von ihnen) (100–120?).
  • Der Hirte des Hermas (Allegorie) (115–145?).
  • Der Brief von Barnabas (aber nicht von ihm; auch Pseudo-Barnabas genannt) (zwischen 70 und 135?).

2. Andere Apokryphen, die manchmal als kanonisch betrachtet wurden:

  • Die Offenbarung des Petrus (aber nicht von ihm) (um 150)
  • Die Apostelgeschichte des Paulus (um 170)
  • Der Brief an die Laodizäer (4. Jhdt?)
  • Das Evangelium der Hebräer (um 75).

Schlussfolgerung

Der Kanon der Bibel ist ein faszinierendes Thema und zeigt uns, wie deutlich und auffällig sich die Bücher der Bibel von den edelsten, nicht-inspirierten religiösen Schriften unterscheiden – so auffällig, dass nur sehr wenige Bücher der Bibel umstritten sind, und das auch nur von einigen wenigen Kritikern. Dieser einzigartige Charakter der kanonischen Bücher kann nur durch das Wunder göttlicher Inspiration erklärt werden (siehe „Was ist Inspiration?“).

Vorheriger Teil Nächster Teil


Aus So entstand die Bibel, CLV, 1992,
von Prof. Dr. W.J. Ouweneel und W.J.J. Glashouwer
www.clv.de


Hinweis der Redaktion:

Die Redaktion von Faszination Bibel ist für die Veröffentlichung des obenstehenden Artikels verantwortlich. Sie ist dadurch nicht notwendigerweise mit allen geäußerten Gedanken des Autors einverstanden (ausgenommen natürlich Artikel der Redaktion) noch möchte sie auf alle Gedanken und Praktiken verweisen, die der Autor an anderer Stelle vertritt. „Prüfet aber alles, das Gute haltet fest“ (1Thes 5,21). 

Bibeltexte im Artikel anzeigen