Einzigartig in ihrem moralischen Charakter

Willem Johannes Ouweneel

© CLV, online seit: 18.03.2006, aktualisiert: 13.07.2018

Noch wichtiger als der literarische ist der moralische Charakter der Bibel. Sowohl Christen als auch Nichtchristen haben erkannt, dass die klassischen Werke der Antike und die heiligen Bücher des Orients geistlich tot sind und manchmal gerade durch ihre große Unmoral auffallen. Prof. Max. Muller wagte es nicht, die Bücher der Hindus buchstäblich zu übersetzen, um nicht wegen Publikation obszöner Pornographie angezeigt zu werden. Es besteht eine nicht zu überbrückende moralische Kluft zwischen der Bibel einerseits und sonstigen religiösen Schriften andererseits. Einzigartig zeigt sich die Bibel darin, dass sie eine moralische Lehre darbietet, die dem Normalempfinden des Menschen radikal entgegengesetzt ist. Eine Moral, deren Inhalt beispielsweise darin zum Ausdruck kommt, dass wir unsere Feinde lieben sollen und denen Gutes tun, die uns hassen und verfolgen, dass wollüstige Blicke Ehebruch bedeuten und Hass Mord ist, kann mit Bestimmtheit einzigartig genannt werden.

Die Bibel wurde ohne Zweifel von Menschen geschrieben. Und doch haben diese Menschen so völlig anders geschrieben, als Menschen das sonst irgendwo getan haben. Menschen schreiben gewöhnlich nicht so ungünstig über sich selbst, wie wir es zum Beispiel in Römer 3,10-23 lesen können. („Da ist keiner, der Gutes tue, auch nicht einer.“) Auch erzählt man gewöhnlich nicht so einfach, wie man ohne viel Kampf vom Teufel überwunden wurde (1. Mose 3). Und welcher Mensch würde sich jemals eine Hölle ausdenken als ewige Strafe für Sünde und Unglauben oder eine ewige Glückseligkeit für Sünder, die ohne Verdienst, aus lauter Gnade, einer Strafe enthoben werden, die sie genauso verdient hätten wie die Verlorenen?

Normalerweise versucht der Mensch durch „Gutsein“, Gott zu gefallen; menschliche Religion ist immer ein Rezept zur Besserung des Charakters und Benehmens. Aber diese Gedanken sind der Bibel vollkommen fremd. In ihr verkündigen Menschen, von Gott getrieben, dass die Erlösung Gnade ist, ein Geschenk Gottes, der die verlorenen Menschen retten will; dass der Mensch verloren ist und nichts anderes zu seiner Errettung tun kann, als an Jesus Christus zu glauben. Man bemerkt den Unterschied daran, wie über Sünde gesprochen wird. Die Menschen neigen normalerweise dazu, das Böse nicht so ernst zu nehmen. Sie nennen Sünden Fehler, Mängel oder schlechte Gewohnheiten. Aber die Bibel sieht in der Sünde Aufstand gegen den heiligen und gerechten Willen Gottes. Nehmen wir sexuelle Sünden. Gewöhnlich reagiert der Mensch prüde oder triebhaft, wenn über sexuelle Themen gesprochen wird. Die Bibel ist da ganz anders; sie ist niemals prüde, sondern nennt die sexuelle Sünde beim Namen; sie ist niemals wollüstig, sondern spricht unverblümt das Urteil über Missbrauch. Im positiven Gebrauch, nämlich wo die Sexualität innerhalb der Ehe erlebt wird, zeigt die Bibel sie als ein Geschenk Gottes. Getrieben von ihren eigenen unreinen Gedanken, haben manche Leute die Bibel ein unsittliches Buch genannt, weil sie Sünden vieler Hauptpersonen unverblümt und offen beschreibt. Als absurd erweist sich diese Beschuldigung an der Tatsache, dass im Alten Testament sexueller Missbrauch mit dem Tode bestraft wurde und das Neue Testament noch strenger urteilt, wenn es keine Bekehrung von diesem Übel gibt.

Vielleicht zeigt sich der moralische Standard der Bibel nirgends deutlicher als in der Tatsache, dass sie so offen die Sünden und Schwächen ihrer edelsten und meistgeliebten Hauptpersonen aufzählt. Manche Leute haben gerade das als ein Argument gegen die Bibel gebraucht und behaupten (ohne viel Selbsterkenntnis), dass die Menschen der Bibel minderwertige, unedle Leute waren, denen wir besser keine Beachtung schenken sollten. Nun, in der Tat, Noah war betrunken; David beging Ehebruch und Mord, und Petrus fluchte und leistete einen Meineid. Das war falsch – aber waren sie darin so anders als wir? Die Bibel zeigt den Menschen einfach, wie er ist! Auch der anziehendste und edelste Mensch ist nicht besser als irgendjemand anderes. Die Bibel ist nicht wie einige Sonntagsschulheftchen: mit Geschichten ganz braver Kinder, die gewöhnlich jung sterben. Die Bibel ist lebensnah – in einer einzigartigen Weise.

Stellen wir uns doch einmal vor, dass die Bibel von einem religiösen Klub zusammengestellt und herausgegeben wäre – würden wir dann jemals etwas gehört haben über die listigen Lügen Abrahams, die feigen Verleugnungen des Petrus, den törichten Götzendienst Salomos, die Schande Lots, den Betrug Jakobs, den Streit zwischen Paulus und Barnabas oder die Eigenwilligkeit des Mose? Ganz sicher nicht. Eine Kommission von ehrerbietungswürdigen Geistlichen hätte uns eine Bibel vorgesetzt voller fleckenloser Menschen, Vorbilder tadelloser Frömmigkeit und heiligen Wandels und nicht eine Bibel armer elender Sünder, die sie in Wirklichkeit waren. Schlimmer noch: Manche Bibelschreiber schämen sich nicht einmal, ihre eigenen Sünden zu beschreiben, z.B. Matthäus, Johannes und Paulus. Welche anderen Bücher gibt es noch, die solche bemerkenswerten Charakterzüge aufweisen?

Aber liegt hier nicht gerade die Ursache für die Emotionen um die Bibel? Der absolut einzigartige moralische Charakter dieses Buches zwingt den Menschen unwiderruflich zu einer Wahl, einer Entscheidung. Es scheint, dass niemand unberührt und neutral gegenüber der Bibel bleiben kann.

Ist das vielleicht auch der Grund, weshalb die Bibel das meistverkaufte, meistverbreitete, meistübersetzte und meistgelesene, aber auch das meistgehasste Buch der Welt ist? Ist das der Grund, dass nie ein Buch so angegriffen, kritisiert, bestritten und vernichtet wurde wie die Bibel? Hassen sie die Bibel vielleicht aus demselben Grund wie ein Verbrecher das Gesetz, nach dessen Paragraphen er verurteilt wird?

Aber auch das Umgekehrte ist wahr: Die Bibel ist, wie schon gesagt, auch das meistgeliebte Buch der Welt. Christus sagte einmal von den falschen Propheten: „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen … Jeder gute Baum bringt gute Früchte, aber der schlechte Baum bringt schlechte Früchte.“ Genau dasselbe kann man von der Bibel sagen. Wenn ihre Moral nicht nur außerordentlich interessant, sondern auch gut und nützlich ist, kurz gesagt, wenn die Bibel ein gutes Buch ist, dann muss sich das an ihren Früchten zeigen. Markus Aurelius, Konfuzius und andere Moralisten schrieben hochstehende Standardwerke über die Ethik. Aber wer könnte ein Beispiel dafür anführen, dass ein Mensch dazu gebracht wurde, ein wirklich gutes und heiliges Leben zu führen, weil er diese Bücher studiert hat? Diese Bücher präsentieren wohl ein bestimmtes Ideal, aber die Praxis zeigt die Unmöglichkeit, den gefallenen Menschen auf das Niveau dieses Ideals zu stellen, weil die Kraft fehlt, die anscheinend nur die Bibel besitzt.

Die Bibel tut das, indem sie uns in Kontakt bringt mit Jesus Christus, der den gefallenen Menschen nicht „repariert“, sondern der für ihn gestorben ist. Der gefallene Mensch ist in und mit Christus gestorben – dessen darf sich nach Zeugnis der Schrift jeder sicher sein, der Christus in wahrhaftigem Glauben angenommen hat –, und er ist in dem auferstandenen Christus ein vollkommen neuer Mensch geworden, eine neue Kreatur. Die biblische Antwort auf das moralische Problem des modernen Menschen ist eine persönliche, geistliche Wiedergeburt, wirkliche innerliche Lebensumwandlung – nicht Bekehrung zu einem System, sondern zu einer Person – und ein aufrichtiges, gläubiges Vertrauen zu dem auferstandenen Herrn Jesus Christus.

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Aus So entstand die Bibel, CLV, 1992,
von Prof. Dr. W.J. Ouweneel und W.J.J. Glashouwer
www.clv.de


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