Einzigartig in ihrem literarischen Charakter

Willem Johannes Ouweneel

© CLV, online seit: 18.03.2006, aktualisiert: 13.07.2018

Es ist eigentlich merkwürdig, dass die Bibel nicht in Alexandrien (Ägypten) oder Athen (Griechenland) – also in Zentren der Wissenschaften und Kultur – entstanden ist und dass die Schreiber oft ungelehrte Menschen waren. Sie waren keine großen Gelehrten, ja, sie sprachen, was ihre eigene Sprache anbelangt, manchmal nicht einmal die Hochsprache. Petrus sprach den Dialekt seiner Gegend. Die jüdischen Leiter waren erstaunt, dass die Apostel (unter ihnen einige der späteren Autoren des Neuen Testaments) ungeschulte, einfache Menschen waren – also bestimmt keine Menschen, von denen man literarische Meisterwerke erwartet hätte. Und doch ist die Bibel zu einer Sammlung literarischer Meisterwerke geworden, und das nicht allein für die alten Hebräer oder die frühen griechischsprechenden Christen, sondern auch in den Sprachen aller kulturell hochstehenden Volker. Obwohl von Menschen eines kleinen Volkes geschrieben – noch dazu eines Volkes, das sich nie besonders für andere Völker oder für Weltmission interessiert hatte! –, ist ihr Buch ein Weltbuch, das nicht nur das Interesse weniger Altertumsspezialisten fand, sondern in den Sprachen, in die es übersetzt wurde, sofort das größte literarische Werk wurde.

Das ist wirklich einmalig. Das Hochdeutsch, das wir sprechen, wurde geprägt vom ausdrucksvollen Deutsch der alten Lutherbibel; die holländische Sprache wurde geformt und entwickelt aus dem großartigen literarischen Sprachschatz der „Statenbibel“. Die englische Sprache hat ihre Prägung bekommen durch die Sprache der „Authorised Version“ (der sogenannten King-James-Übersetzung). Frederick Starrison sagte einmal in einem College in Oxford in Beziehung zur englischen Ausgabe der Bibel: „Das Beste, das unsere Literatur in natürlich edler Prosa geben kann.“ Und Thomas Carlyle schrieb über den Inhalt der Bibel: „Es ist die prächtigste literarische Kostprobe, die je aus menschlicher Feder geflossen ist.“ Er kann darüber urteilen, ist er doch selbst ein Meister unter den Schriftstellern. Obwohl er kein Christ war, sagte der große englische Historiker Froude: „Die gründlich studierte Bibel ist eine Literatur für sich – die seltsamste und die reichste auf allen Gebieten des Denkens.“

Sir William Jones, nach Aussage der Enzyclopaedia Britannica einer der größten Sprachkundigen und Kenner des Ostens, die England je hervorgebracht hat, schrieb auf der letzten Seite seiner Bibel: „Ich habe diese heiligen Schriften regelmäßig und andächtig gelesen und ich meine, dass dieses Buch … mehr Erhabenheit und Schönheit, mehr edle Moral, mehr wichtige Geschichte und schönere poetische Passagen und Schönheit der Sprache besitzt als alle anderen Bücher, in welchem Zeitalter oder in welcher Sprache sie auch immer geschrieben sein mögen.“ Arthur Brisbane (einem Nichtchristen) zufolge enthält die Bibel glänzende Beispiele großer Literatur jeder Form: lyrische Poesie – die Psalmen; epische Poesie – die Genesis; dramatische Poesie – Hiob; historische Erzählkunst – die Bücher Samuel und Könige und Chronika; ländliche Idylle – Ruth; Vaterlandsliebe – Esther und Daniel; praktische Weisheit – Sprüche; philosophische Betrachtungen – Prediger; ergreifende Tiefe – Jesaja; Kurzgeschichten – die Evangelien; Briefe – die verschiedenen Episteln des Neuen Testaments; mitreißende Mystik – das Buch der Offenbarung.

Ein derartiges literarisches Meisterwerk konnte nicht ohne großen Einfluss auf die Weltliteratur bleiben. Seit 1900 Jahren gibt es einen langen literarischen Strom, der durch die Bibel inspiriert wurde: biblische Wörterbücher, Enzyklopädien, Lexika und Atlanten. Aber auch Tausende von Werken über Theologie, Religionsunterricht, Hymnologie, die Mission, die biblischen Schriften und Kirchengeschichte usw., ebenso viele religiöse Biographien, Bücher über die Moral, Kommentare, Religionsphilosophien, apologetische und dogmatische Werke. Dabei sprachen wir noch nicht einmal von den vielen tausend Gedichten, Novellen, Romanen, Liedern, Passions- und Schauspielen. Über die Hauptperson der Bibel, Jesus Christus, schreibt der Yale-Historiker K.S. Latourette: „Es ist ein Hinweis auf Seine Bedeutung, auf den Einfluss, den Er auf die Geschichte genommen hat, und vermutlich auf die rätselhafte Mystik Seines Wesens, dass kein anderes Wesen, das je auf diesem Planeten gelebt hat, so ein gewaltiges literarisches Volumen unter so vielen Völkern zuwege gebracht hat und dass diese Flut, anstatt abzuebben, noch immer steigt.“

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Aus So entstand die Bibel, CLV, 1992,
von Prof. Dr. W.J. Ouweneel und W.J.J. Glashouwer
www.clv.de


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