Ein Gedanke zur Inspiration
Unterschiede in den Evangelien

William Kelly

© J. Das, online seit: 10.07.2006, aktualisiert: 10.07.2018

Hinweis: Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um einen Auszug aus dem Artikel Das Lukas-Evangelium (8). Er zeigt auf prägnante Art und Weise, wie man die Unterschiede in den Evangelien erklären kann.

Deshalb wird auch in unserem Evangelium berichtet, wie Er vom Sämann spricht, denn tatsächlich war Er es, der damals den Samen des Wortes Gottes ausstreute. Die Saat wird hier „Wort Gottes“ genannt. Im Matthäusevangelium, wo dasselbe Gleichnis steht und es das Reich der Himmel einführt, wird sie als das „Wort vom Reich“ bezeichnet (Mt 13,19). In unserem Evangelium geht es, anders als bei Matthäus, nicht um das Königreich. Nichts kann man einfacher erklären als den Grund für diesen Unterschied. Wir müssen beachten, dass der Geist Gottes, wenn Er berichtet, Sich nicht unbedingt auf die Worte beschränkt, die Jesus aussprach. Das ist, wie ich denke, von nicht geringer Bedeutung für die richtige Beurteilung der Bibel. Rechtgläubige Menschen verschließen sich manchmal in der Vorstellung einer Vollinspiration gegen jede andere Auffassung. Sie verstehen unter Inspiration einen Vorgang, der, nach meiner Meinung, ganz und gar „automatisch“ genannt werden muss. Sie denken, dass die Inspiration einzig und allein die genauen Worte wiedergibt, die Christus äußerte. Mir scheint dafür nicht die geringste Notwendigkeit vorzuliegen. Ganz gewiss gibt der Heilige Geist die Wahrheit, und zwar die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Die Unterschiede beruhen nicht auf Unvollkommenheit, sondern auf Seiner Absicht; und was Er uns gegeben hat, ist unvergleichlich besser als ein reiner Bericht unter Mithilfe vieler Menschen, die alle die gleichen Worte und Tatsachen erzählen wollen. Nimm das Kapitel vor uns, um das, was ich sage, zu illustrieren! Matthäus und ebenso Lukas geben uns dasselbe Gleichnis vom Sämann. Aber Matthäus nennt es „das Wort vom Reich“, während Lukas es als „das Wort Gottes“ bezeichnet. Der Herr Jesus mochte beide Ausdrücke in Seiner Predigt benutzt haben. Ich verfechte nicht die Ansicht, dass Er es nicht tat. Doch ich halte fest, dass es egal ist, ob Er beide Ausdrücke benutzte oder nicht. Auf jeden Fall wollte es der Geist Gottes nicht, dass wir beide in demselben Evangelium haben sollten, sondern handelte mit göttlicher Souveränität. Er erniedrigte die Evangelisten nicht zu reinen Protokollierern von Worten, wie wir es bei der sorgfältigen Arbeit eines Menschen antreffen. Ohne Zweifel ist es ihre Aufgabe, sich die genauen Worte, die ein Mensch äußerte, zu beschaffen; doch keine Kraft oder Person ist in dieser Welt fähig, den Willen Gottes auszuführen. Der Geist Gottes jedoch kann mit mehr Freiheit handeln und diesen Teil einer Äußerung dem einen Evangelisten geben und jenen Teil einem anderen. Folglich erklärt ein automatisches System niemals die Inspiration. Ein solches findet sich dadurch völlig widerlegt, dass nicht in allen Evangelien dieselben Worte überliefert sind. Nimm Matthäus, der, wie wir vor kurzem gesehen haben, sagt: „Glückselig die Armen“ (Mt 5,3)! Lukas schreibt: „Glückselig ihr Armen“ (Lk 6,20). Das ist sofort eine unangenehme Schwierigkeit für dieses automatische Schema der Inspiration. Es ist indessen keine für die, welche an der Überlegenheit des Heiligen Geistes festhalten, der verschiedene Menschen als Gefäße Seiner unterschiedlichen Absichten benutzte. In keinem Evangelium wird versucht, alle Worte und Werke des Herrn Jesus wiederzugeben. Deshalb bezweifle ich nicht, dass wir zwar in jedem Evangelium nichts als die Wahrheit lesen, aber dennoch in keinem von ihnen und auch nicht in allen zusammen alles berichtet finden. Darum ergibt sich die reichste Fülle der Darstellung allein aus der Methode des Heiligen Geistes. Indem Er den absoluten Überblick über die ganze Wahrheit hatte, gab Er die nötigen Worte am rechten Platz und durch die geeignete Person, damit Er um so besser die Herrlichkeit des Herrn entfalten konnte.

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Entnommen aus Das Lukas-Evangelium (8)
Lectures Introductory to the Study of the Gospels, Heijkoop, Winschoten, NL, 1970
(im Deutschen herausgegeben und übersetzt von J. Das)

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