Die Einzigartigkeit ihrer Überlieferung

Willem Johannes Ouweneel

© CLV, online seit: 18.03.2006, aktualisiert: 13.07.2018

Ein Buch, das millionenfach aufgelegt und verbreitet wird, läuft natürlich nicht so schnell Gefahr, verlorenzugehen. Aber so war es nicht immer. Ursprünglich wurde die Bibel auf einem Material geschrieben, das leicht verderben konnte. Daher musste sie während der Jahrhunderte mit der Hand abgeschrieben werden, bis dann die Buchdruckerkunst erfunden wurde. Verglichen mit anderen antiken Werken sind von der Bibel viel mehr Handschriften bewahrt geblieben als von zehn willkürlich zum Vergleich herangezogenen klassischen Werken zusammen. Für ein klassisches Werk sind einige Dutzend Handschriften schon erstaunlich viel. Und die sind dann gewöhnlich mindestens tausend Jahre jünger als die ursprüngliche Schrift. Aber vom Neuen Testament kennen wir nicht weniger als 4000 griechische Handschriften, dazu 13.000 Handschriften von Teilen des Neuen Testaments und daneben noch etwa 9000 Handschriften der antiken Übersetzungen des Neuen Testaments (hauptsächlich lateinisch). Vom Alten Testament haben wir weniger Handschriften, aber im Grunde wurden sie noch sorgfältiger aufbewahrt.

Die alten Rabbiner hatten Register aller Buchstaben, Silben, Wörter und Zeilen des Alten Testaments, außerdem gab es eine bestimmte Gruppe von Männern, deren einzige Aufgabe es war, die Heiligen Schriften mit der größten Sorgfalt zu bewahren und zu kopieren. Wer zählte jemals die Buchstaben, Silben und Wörter von Homer oder Tacitus …?

Die Genauigkeit des Bibeltextes ist sogar so überwältigend groß, dass beispielsweise der Text von Shakespeare (der erst einige hundert Jahre alt ist) bedeutend ungenauer und „korrupter“ (d.h. unsicher, verstümmelt) übersetzt ist als der des Neuen Testaments, das bekanntlich schon etwa 19 Jahrhunderte besteht, davon 14 Jahrhunderte in Manuskriptform. Im ganzen Neuen Testament gibt es nur etwa zehn bis zwanzig Verse, bei denen man nicht ganz sicher ist, wie sie genau lauten. Übrigens wird dadurch die Textaussage nicht wesentlich beeinträchtigt. Aber in den Schauspielen Shakespeares kommen sicher hundert Stellen vor, über die Uneinigkeit besteht; in den meisten Fällen handelt es sich dabei um bedeutsame Aussagen.

Aber die Bibel ist nicht nur einzigartig, was ihre Überlieferung durch die (buchdrucklosen) Zeiten hindurch betrifft, sondern auch was ihr Überleben trotz vieler heftiger Verfolgungen angeht. Seit Jahrhunderten versuchen Menschen, sie zu vernichten und zu verbrennen. Könige und Kaiser, aber auch religiöse Führer haben sich mit fanatischem Eifer dafür eingesetzt. Der große römische Kaiser Diokletian erließ 303 n.Chr. den Erlass, alle Christen und ihr heiliges Buch zu vernichten.

Es wurde der größte Angriff auf die Bibel in der Geschichte: Hunderttausende Christen wurden getötet, und fast alle Bibelhandschriften wurden vernichtet. Dennoch erschien die Bibel schon sehr schnell wieder, und die Ironie der Geschichte war, dass schon 22 Jahre später die Bibel von Kaiser Konstantin auf dem ersten allgemeinen Konzil zur unfehlbaren Autorität erhoben wurde. Außerdem gab er Eusebius den Auftrag, fünfzig Kopien der Bibel auf Kosten der Regierung anfertigen zu lassen. Solche Wendungen hat es immer wieder gegeben. Der berühmte französische Rationalist Voltaire, der 1778 starb, behauptete, dass die Bibel innerhalb von hundert Jahren nur noch als Antiquität zu finden sein würde. Aber innerhalb von fünfzig Jahren nach seinem Tod gebrauchte die Genfer Bibelgesellschaft seine Druckerpresse und sein Haus, um Mengen von Bibeln zu produzieren! Versuchen Sie aber mal, ein Werk von Voltaire zu kaufen: Das dürfte nicht ganz einfach sein.

Dem Römischen Reich folgte das Mittelalter. Die römische Kirche enthielt dem Volk die Bibel so sehr vor, dass jahrhundertelang die Bibel praktisch unbekannt war. Sogar Luther war, wie er sagte, schon erwachsen, ehe er überhaupt eine Bibel zu Gesicht bekam. Aufgrund der Konzilsbeschlüsse und päpstlicher Bannflüche wurden Bibelübersetzungen öffentlich verbrannt und Bibelleser von der Inquisition verurteilt, gefoltert und verbrannt. Das änderte sich erst langsam nach der Reformation. Aber danach entstand, gerade im Schoße des Protestantismus, eine Reihe neuer Attacken besonderer Art: die Angriffe der „Bibelkritik“. Vor allem in Deutschland kam ein ganzes Heer von Rationalisten auf, das sich die wildesten und heftigsten Angriffe ausdachte. Dennoch wurde die Bibel seither mehr verbreitet, mehr gelesen und mehr geliebt als je zuvor. Die Angreifer sind gestorben, ihre Kritik längst widerlegt, doch die Bibel steht immer noch wie ein Felsen. Welches Buch ist damit vergleichbar? Die Bibel ist das meistgeliebte Buch der Welt. Aber erstaunlich ist, dass sie gleichzeitig das meistgehasste und meistkritisierte Buch der Welt ist. Viele Hämmer sind schon auf ihr kaputtgeschlagen und zahllose Grabreden über sie ausgesprochen worden. Kein Kapitel, kein Satz in der Bibel ist diesem Gift entkommen: Gibt es ein zweites Buch in der Literatur, von dem man das sagen kann? Sicherlich, es gibt zahllose Bücher, die auch gründlich kritisiert wurden. Aber sie sind dann auch für immer in Vergessenheit geraten. Doch die Zeit der heftigsten Bibelkritik ist gleichzeitig die Zeit der spektakulärsten Bibelverbreitung geworden. Wir hoffen, später noch mehr Gelegenheit zu haben, um hinzuweisen auf die vielen Angriffe, die auf die Bibel verübt wurden, die sich aber als vollkommen unbegründet herausgestellt haben. Jetzt geht es uns darum, zu zeigen, dass die Bibel einzigartig ist in der Art und Weise, wie sie die Jahrhunderte und die Angriffe überdauert hat. Kein denkender Mensch kann das leugnen.

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Aus So entstand die Bibel, CLV, 1992,
von Prof. Dr. W.J. Ouweneel und W.J.J. Glashouwer
www.clv.de


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